Von der Gnade der rechtzeitigen
Geburt
Geboren anno 1943, mitten in diesem - wie alle - so
sinnlosen Krieg, im April, im einzigen Krankenhaus in Freiburg, in welchem damals die echten "Bobbele" zur Welt kamen. Im St. Elisabeth in der Dreisamstraße 15. Wohnhaft dann in der Schloßbergstraße, im Hinterhaus, zweites Obergeschoss, erreichbar über eine eiserne Wendeltreppe. Es waren drei Räume, Küche, Wohnen, Schlafen. Diese Räume gehörten zu der Wohnung im Vorderhaus, wurden aber für so genannte Ausgebombte frei gemacht. Den Grundriss
unserer Bleibe kann ich noch heute aufzeichnen. 1948 kam der Umzug in den Freiburger
Vorort Schneckenviertel (Snekenviertel, der Name stammt von den damals
gebräuchlichen Wendeltreppen- Sneken - außen
an den Häusern) zu den Eltern meiner Mutter. Da in der Wohnung in dem über
zweihundert Jahre alten Haus nicht genügend Platz war, stand mein Bett zunächst
auf dem Speicher. Ein Raum ohne Licht - in der Wohnung war auch kein Strom,
sondern Gaslicht - mit Wänden aus purem Gips, in welchen Wanzen ihre Gänge
gebohrt hatten. Damit diese nicht über ihren kleinen Sohn herfallen konnten,
hielt meine Mutter vor meinem Zubettgehen eine brennende Kerze vor diese
kleinen Löcher. Die Wärme lockte die Blutsauger heraus und die Flamme der Kerze
verzehrte sie. Die Rußspuren der Kerzen an den Wänden habe ich noch heute in
Erinnerung. Auch Flöhe gab es reichlich. Deshalb wurde bisweilen eine kleine
Wanne mit warmem Wasser aufgestellt. Da hüpften die Tierchen rein und
ertranken.
Später schlief ich bei meinem Opa im Bett – sonst war kein
Platz - und habe diesen ab und an auch genässt. Ja, ich war ein Bettsaicher. So
wurde ich hinter der Universitätsbibliothek (Bibi) groß. Dort, wo die Menschen,
welche nichts hatten, den anderen, welche gar nichts hatten, noch etwas
abgaben. Vor und hinter dem Haus floss der Gewerbekanal. Im Garten der Bibi
wuchsen Kirschen und Pfirsiche. Diese waren natürlich – wenn sie geklaut wurden
– vom Geschmack unwiderstehlich. Geld zum Kaufen hatten wir nicht, der Vater
war in Russland als vermisst gemeldet. Deshalb gab es auch keine Butter. Erst
als RAMA auf den Markt kam, schmeckte das Brot besser. Diese Margarine gab es
in unserem Viertel nur in einem Laden. Der befand sich Ecke Moltke und Bertholdstraße.
Unsere Lebensmittel kaufte wir auf Pump in der Markthalle in der Fischerau. Bei
Frau Schwiegerath und Frau Wittmann. Erbsen, Bohnen, Salz, Zucker usw. befanden
sich offen in Schubladen. Abgepackt wurde in Papiertüten, welche an einer
Schnur mit Haken von der Decke hingen. Wenn die Tüten alle waren, dann tat es
auch einmal eine zur Tüte gerollte Zeitung. Und keiner ist daran gestorben. Die
Milch kauften wir bei einer mobilen Händlerin, welche diese, offen geschöpft,
von einem vom Pferd gezogenen Wagen herunter verkaufte. Darum wussten wir auch,
warum große Steinblöcke schräg an den Ecken der Häuser standen. Es waren so
genannte Radabweiser. Damit eben die Räder der Fuhrwerke nicht die Ecken
abschlugen.
Die Müllabfuhr kam mit einem offenen, tropfenden und
versifften Lkw. Angetrieben war das Fahrzeug mit einem Holzvergaser. Dessen
Luftkläppchen erzeugte sehr vernehmlich immer ein lautes KlingKlingKling. So
konnte man den Müllwagen schon in der Parallelstraße kommen hören und den Eimer
rechtzeitig zum Entleeren auf die Straße bringen. Der Inhalt dieses Eimers
wurde einfach auf die Pritsche des Lkw geleert.
Abends setzten sich die Erwachsenen auf Stühle vor dem Haus
und sprachen vielleicht über die Nachbarn, die nicht dabei sein konnten. Und in
den Sommermonaten waren am Audimax der Uni, da hieß die Humboldstraße noch Belfortstraße,
die Fenster geöffnet und wir konnten die gesanglichen Proben vom „Gefangenenchor“
hören.
In den Ferien gingen wir Kinder morgens aus dem Haus, haben
das Mittagessen vergessen und waren bei Dunkelheit wieder zu Hause (deheim). Gespielt
haben wir auf und in Trümmern. Einmal im Jahr wurde der Gewerbekanal zur
Reinigung abgestellt. Dann gingen wir mit Kerzen durch die Dohlen – die
Bachröhren unter den Straßen – und suchten Geldmünzen, welche die Zimmermädchen
im Hotel Freiburger Hof aus der Bekleidung der Gäste herausbürsteten, wenn sie
die Hosen und Jacken aus dem Fenster hielten. Schrott sammelten wir dort auch.
Dieses kam zum Alteisenhändler Röder. Und wenn so genanntes Buntmetall dabei
war, dies brachte richtig Geld, so mussten wir uns gegen entsprechende Gebühr
einen „Älteren“ anlachen. Erst ab achtzehn durfte Kupfer, Blei und Messing
gegen Bares getauscht werden. Übrigens: Mit 16 durfte man rauchen, erst mit 21
war man volljährig (damals gab es weder Gender noch drei Geschlechter, deshalb
schreibe ich „man“).
Im Sommer wurde nach der Schule der Ranzen in die Ecke
gepfeffert und in der Unterhose – Badehose war wegen Geldmangel nicht vorhanden
– im Gewerbekanal vor dem Haus gebadet. Er wurde mit Abfallholz am Rechen
angestaut.
Anno 1954 war für mich die Erstkommunion. Den Anzug dazu
bezahlte die Pfarrei St. Martin. Aber nur mit kurzer Hose. Auf dem Bild vor der
Kirche stehen Buben mit kurzen und langen Hosen. Die mit der kurzen Hose sind
die Armen.
Wenn dem Hotel Freiburger Hof Brennholz angeliefert wurde,
dann halfen wir mit, dieses in den Keller zu tragen. Als Dankeschön erhielten
wir vom Bruder des Inhabers – es waren zwei Brüder namens Kiechle - ein paar schrumpelige Äpfel. Deshalb bekam er
den Namen „Epfelkiechle“. Sein Bruder war der Kellerkiechle. Er tauchte immer
im Keller auf.
Der kleine Manfred wurde größer und kam – weil die
zuständige Lessing-Volksschule schon überbelegt war – in die Karlschule. Dort
hatte jeder Lehrer sein Zimmer. Zum Lernen der einzelnen Fächer zog also die
Klasse immer um. Tatzen waren an der Tagesordnung, bei schlimmeren Vergehen gab
es „Hosenspannis“. Also den Buben über die Bank gelegt und ihm auf dem
Hinterteil die Rute zu schmecken gegeben. Zum Rechnen bei Lehrer Stahl brachte
dieser zwei Wiener-Würstchen mit.
Ab etwa der sechsten Klasse war ich Ausläufer bei dem
ältesten Tabak-Groß- und Einzelhandel in Freiburg am Bertholdsbrunnen. Zu
beliefern waren andere Tabakwarenläden und die Gastronomie. Mit einem so
genannten Bäckerfahrrad. Das mit dem großen Korb vor dem Lenker. Stundenlohn
fünfzig Pfennige. Diese halbe Mark legte ich Stück für Stück aufeinander. Und
wenn ich fünf Mark zusammen hatte, dann ging ich damit zum Bekleidungshaus
Rübenacker & Lehmann vorne an der Ecke und zahlte weiter die Hose ab,
welche ich dort „auf Pump“ gekauft hatte. Im Gasthaus „Bärbele“ gab mir der
dicke Wirt, er hieß Roser, fünfzig Pfennig Trinkgeld. Mit den Worten „Machs
glei weg, dass es die Alt nitt sieht“.
Dann die Lehre. Starkstromelektriker bei der Deutschen
Bundesbahn. Das war schon etwas. Zur Aufnahmeprüfung traten zweiundsechzig
Buben an. Genommen wurden fünf Elektriker und fünfzehn Schlosser. Die Lehre war
– so sehe ich es auch heute noch – sehr gut. Wir Elektriker mussten erst ein
Jahr bei den Schlossern das lernen, was diese in drei Jahren lernten. Feilen,
Drehen, Metall hobeln, Autogen- und Elektroschweißen, Schmieden etc., Ohrfeigen
gab es bei Bedarf gratis. Und im ersten Lehrjahr fünfundvierzig DM pro Monat.
Und wehe dem Buben, der – auch irgendwo in der Stadt – beim Rauchen gesehen wurde.
„Du sollst nischt raachen, hör“. Originalton Lehrmeister Höfer.
Nach der Lehre ein Gesellenjahr an der Schweizer Grenze.
Dann zwei Jahre als ZettSau bei der BW. Das waren schon die richtig fetten
Jahre. Es gab alles. Und dreihundertundfünfzig D-Mark Sold, dazu
einhundertundfünfzig D-Mark Springerzulage. Ein Wehrpflichtiger hatte 64 DM im
Monat. Und am Monatsende habe wir die angepumpt.
Ergo:
-
Angefangen im und mit Nichts
-
- mit Schmalhans durchgekämpft, aber die Politik
tat damals etwas für das Volk, für uns
-
- die fetten Jahre voll mitgemacht
-
- auch den Absturz in den Neunzigern (die Politik
tut …)
-
- und jetzt?
Wenn ich jetzt so um mich schaue, dann spreche ich – und genauso empfinde ich es richtig tief in mir – von der Gnade der rechtzeitigen Geburt. Und ich freue mich gnadenlos, dass ich schon achtzig bin.
Ein alter
Sack.
Manfred Schaller am 18. Juni 2023